Italien‘s Sommer-Polittheater aus der Sicht eines Aushilfs-Baristas

 

 

… Nachdem nur wenige Tage zuvor die NZZ über wachsende Ausländerfeindlichkeit in der Toskana auch Mitteleuropäern gegenüber berichtet hatte (siehe Artikel ganz unten), empfand ich in erster Linie einmal Freude und Erleichterung. Die Anfrage zeigte doch immerhin, dass in unserer Umgebung die xenophobe Saat Salvini’s bisher noch nicht gesprossen war und offensichtlich die Bereitschaft bestand, einen keineswegs perfekt Italienisch und schon gar nicht Dialekt Sprechenden hinter die Bar zu stellen. Selbstverständlich sagte ich gerne zu. Zugegebenermassen, ein Einsatz nicht gerade auf der Linie meiner bisherigen beruflichen Aktivitäten (mal abgesehen von einem Gastro-Studentenjob Mitte der siebziger Jahre), aber eine Riesenchance, den Puls des Landes und der Leute noch unmittelbarer zu fühlen und zu spüren.

 

Und, in der Tat, kaum im «Aushilfs-Barista»-Amt, platzt die Bombe vom Bruch der Regierungskoalition in Rom. Was Matteo Salvini, den Chef der Rechtspartei «Lega» bewogen hat, mitten im (für die Italienerinnen und Italiener nach wie vor heiligen) Ferienmonat August das Regierungsbündnis mit der linkspopulistischen Bewegung «Movimento Cinque Stelle (M5S)» aufzulösen, darüber rätselt auch der „Circolo“. Einigkeit besteht an der Bar allerdings, dass ausschliesslich der Zeitpunkt, nicht hingegen der Bruch der Koalition per se überrascht.

 

Viele der Linkswähler waren in den letzten Wahlen, anfangs 2018, vom Partito Democratico (PD) zur M5S gewechselt. Sie fühlten sich in der von Flügelkämpfen zerrissenen PD – im Wesentlichen zwischen «New Labour» unter Renzi und «Old Labour» unter früheren Parteichefs wie Bersani oder D’Alema – zwischen den Fronten zerrieben und nicht mehr vertreten.  Die von den Wahlsiegern M5S und Lega versprochene «Regierung des Wechsels (governo del cambiamento)» traf daher bei vielen Wählerinnen und Wählern – und auch bei vielen Gästen des „Circolo“ – den Nerv. Man hatte genug von der alten Politikerkaste, sei es Berlusconi’s Forza Italia oder die zerstrittene PD. M5S und Lega versprachen, neuen Wind in die Politik zu bringen.

 

Nun, schnell wurde klar, dass mit dem «Governo del Cambiamento» den Leuten lediglich Sand in die Augen gestreut wurde. Die Lega benutzte die M5S von Anfang an als Steigbügelhalterin, um für sich die Alleinherrschaft anzustreben. Statt seriöse Regierungsarbeit zu leisten, hörte der Chef der Lega denn auch nie auf, Wahlkampf zu betreiben. Die Tageszeitung «Repubblica» rechnete Salvini anfangs Mai vor, dass er in den ersten vier Monaten des 2019 lediglich an 17 Tagen in Rom eigentliche Ministerialaufgaben wahrgenommen habe, währenddessen er an den anderen 95 Arbeitstagen in diesem Zeitraum an 211 Veranstaltungen auftrat, die nicht im Zusammenhang mit seiner Regierungstätigkeit standen. Nicht erstaunlich hat die Regierung in den 15 Monaten ihres Bestehens denn auch kaum zählbare Resultate geliefert. Insbesondere wurde rein gar nichts unternommen, um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Landes zu verbessern, was so dringend nötig wäre. Lieber legte man sich mit der EU an, machte Stimmung gegen die Flüchtlinge und bewirtschaftete die Ausländerfeindlichkeit, das versprach Popularität.

 

An der Bar im «Circolo» und auch an den vielen Nachtessen im Freien, die in dieser Jahreszeit von den «Circoli» veranstaltet werden, reibt man sich die Augen. Die (von Beginn weg zu naive) Hoffnung, mit der Wahl von M5S eine neue politische Ära schaffen zu können, hat sich zerschlagen. Konsequenz ist, dass man mitgeholfen hat, den Zauberlehrling „Lega“ aufzubauen und diesen nun kaum mehr los wird.

 

Allerdings könnte sich der Zauberlehrling nun verzockt haben. Geblendet durch seine Popularität, entschloss sich Salvini während seiner «Beach-Tour» (eine Reihe von Wahlkampfveranstaltungen an den Stränden Süditaliens, die zu tausenden von Selfies von Salvini in Badehosen zusammen mit Feriengästen führte), die Koalition mit der M5S auffliegen zu lassen. Seine Absicht war es, möglichst schnell Neuwahlen abzuhalten, um dann – so seine Vorstellung – alleine regieren zu können. Bezugnehmend auf das Pinienallee-Bild oben, wähnte er sich wohl auf dieser geraden Strasse, die ihn ohne Hindernisse an sein politisches Ziel führen würde. Zu überheblich agierend, übersah er prompt die Gefahren- und Warnschilder am Strassenrand. Nun könnte es für ihn enger werden als ihm lieb ist.

 

Der bisher eher als Marionette der beiden Regierungsparteien wahrgenommene Ministerpräsident Giuseppe Conte weigerte sich nämlich dem Tempodiktat Salvini’s zu folgen und sofort zurückzutreten. Es gelang ihm wichtige Zeit herauszuschinden, die es den übrigen politischen Kräften ermöglichte, alternative Handlungsszenarien zu erwägen und zu besprechen. Er, Salvini, der monatelang Parlament, Regierung und ein Grossteil der politischen Öffentlichkeit vor sich hintrieb, hatte auf einmal das Momentum verloren und geriet in die Defensive. Ein Sommer-Polittheater erster Güte, wie er daraufhin versuchte, faktisch den Koalitionsbruch rückgängig zu machen und die M5S wieder auf seine Seite zu ziehen. «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern» im Hochkonzentrat.

 

Heute ist Giuseppe Conte nun zurückgetreten. Eine Neuauflage der Koalition Lega-M5S scheint endgültig vom Tisch. Die nächsten Tage und Wochen werden nun zeigen, wie es weitergehen wird. Neben Neuwahlen ist denkbar, dass unter den gegebenen parlamentarischen Mehrheiten eine neue Regierung eingesetzt werden kann. Entweder ein «Governo technico» mit sehr beschränkten Aufgaben (insbesond. zur Vorbereitung und Vorlegung eines Budgets für das kommende Jahr) oder auch eine neue politische Regierung. Möglich wäre evtl. ein Zusammengehen von PD und M5S, was allerdings innerhalb der PD ziemlich umstritten ist und die nach wie vor bestehenden Gräben innerhalb der Partei wohl nur noch vertiefen würde. Eine weitere labile Regierung ist nun wahrlich nicht das, was das Land derzeit braucht.

 

Im «Circolo» ist man sich einig. Eine Regierung unter Führung der Lega – die n.b. bereits verkündet hat, dass sie bei einem Wahlsieg Italien aus dem Euro führen würde – muss verhindert werden. Eine Mehrheit scheint einem «Governo technico» nicht abgeneigt. Der Wunsch nach zumindest vorübergehend wieder mehr Ruhe auf politischer Ebene, ist förmlich spürbar.

 

NZZ, 5. August 2019, Seite 2

 

AUFGEFALLEN

Die Italiener zuerst – «ein Prinzip der Zivilisation»

Martin Beglinger, Grosseto · Die Maremma, der Südteil der Toskana mit der Provinzhauptstadt Grosseto, war schön wie immer in den letzten zwanzig Jahren, auch wenn man ein Schild mehr denn je sieht: «Vendesi», «Zu verkaufen». Eine gute Bekannte, Schweizerin und seit bald dreissig Jahren hier lebend, erzählt, an die Krise habe sie sich langsam gewöhnt, nur an etwas anderes nicht: dass die Italiener nie warten könnten. Immer drängle jemand hemmungslos an einer Schlange vorbei mit der Begründung, man brauche nur kurz dies oder das. Trotzdem schweige sie dann lieber – als Ausländerin.

Tags darauf müssen wir mit der Katze zur Tierärztin. Nach einer guten Stunde Warten im Vorzimmer kommt eine ältere Italienerin und macht eindrücklich vor, was unsere Bekannte am Vortag beschrieb. Das «nur kurz» dauert eine Viertelstunde. In der Zwischenzeit fragen wir uns, wie wir reagieren sollen, und sagen dann auf Italienisch: «Signora, wir alle sind hier am Warten, das Anstehen sollte doch für alle gelten.» Die Signora murrt kurz und geht, wir schauen uns schweigend an und wenden uns später auf Schweizerdeutsch der Frage zu, was wir am Abend kochen wollen.

Daraufhin sagt der Letzte in der Schlange, ein junger Italiener: «Hören Sie auf zu reden, das geht mir auf die Nerven!» – «Wie bitte?» – «Ja, hören Sie auf! Hier drin darf man nur Italienisch sprechen.» – «Und wenn Sie mit Ihrer Freundin nach London gehen, dann reden Sie dort auch nur Englisch?» – «Wir sind hier in Italien. Reden Sie Italienisch, oder gehen Sie nach draussen.» – «Wir reden ja nicht über Sie.» – «Was weiss ich, ich verstehe es ja nicht.»

So etwas haben wir noch nie zu hören bekommen in den letzten zwanzig Jahren. Aber es kam auch noch nie vor, dass ein italienischer Innenminister, Matteo Salvini, am Staatsfernsehen RAI sagte: «Die Italiener zuerst, das ist nach meiner Meinung ein Prinzip der Zivilisation.» Das war Anfang Mai 2019. Zwei Wochen später holte er bei den Europawahlen mit seiner Liste «Lega Salvini Premier» 39 Prozent der Stimmen in der einstmals roten Maremma.